Fast drei Jahrzehnte lang machen es uns die USA vor, wie Barrierefreiheit grenzenlos funktioniert. Die Freiheitsstatue fährt Rollstuhl sozusagen. Die Staaten nehmen ihr Behindertengleichstellungsgesetz wörtlich – Americans with Disabilities Act (ADA) sorgt seit 1990 dafür, dass beeinträchtige Menschen, auf einem guten, auf einem barrierefreien Weg sind. Unbefangen unterwegs zu sein auch als Nicht-Fußgänger ist in deutschen Gefilden ein Wagnis. In zahlreichen Restaurants und an vielen Orten der Sehenswürdigkeiten gibt’s noch nicht mal eine Behindertentoilette. In Amerika ist der touristische place to be standardmäßig mit einer solchen ausgestattet. Und wenn nicht, hat der Freizeittreff eine Außenseiterrolle. Ja, hallo, das geht. Nichtbehinderte erklären sich solidarisch mit eingeschränkten Zeitgenossen und meiden den Ort der Nachlässigkeit in Sachen Barrierefreiheit. In den USA sind ausreichend barrierefreie Hotelzimmer vorhanden, Mietwagen kann man beispielsweise überall mit Handgas mieten, wenn man nicht per pedes fahren kann. Was für eine Signalwirkung!
Das amerikanische Behindertengleichstellungsgesetz verlangt regelrecht angemessene Vorkehrungen zu treffen, damit Menschen mit Beeinträchtigungen nicht diskriminiert werden. Und bewirkt damit eine Nachdenkpflicht über die Bedürfnisse, die eigentlich normal aus der Sicht von Menschen mit Handicap. Und weil die Individualität jedes einzelnen besondere Vorkommnisse bei jedermann, jederfrau mit sich bringt, ist es generell normal. Normalität ist eben verschieden zu sein. Das gilt auch für den Arbeitsmarkt. Ein Grundbedürfnis eines Menschen ist es, einer Beschäftigung nachzugehen. Mit Lohn als Erfolgserlebnis. Und ein Grundrecht für alle ist es ebenfalls in Deutschland. Doch was nutzt es, eben auch als behinderter Mensch dieses Grundrecht zu haben, aber keine Chance zu bekommen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Das macht eher einen grausamen Scherz aus und führt diesen Anspruch ad absurdum. Amerika verlangt von seinen Arbeitgebern per Gesetz Maßnahmen, um Menschen mit Beeinträchtigung ganz selbstverständlich auf dem ersten Arbeitsmarkt zu integrieren.
Das ist kein amerikanischer Traum, sondern traumhafte Wirklichkeit in den Staaten. Einer Realität, der wir in Deutschland folgen sollten. Eine starke Gesetzgebung zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen zu etablieren ist hierzulande längst überfällig. Immer noch gibt es keinen ausreichenden Schutz vor Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen. Kinder mit Behinderung dürfen bis zur Geburt abgetrieben werden, Erwachsene, die blind oder taub seien, werden vielfach vom ersten Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Noch immer findet an vielen Schulen lediglich eine Pseudo-Inklusion statt, die dann zum Scheitern verurteilt ist. Und aus diesem Resultat heraus werden Kinder mit Behinderungen oftmals aus der Regelschule ausgegrenzt. Straßen und Bürgersteige, öffentliche Gebäude und Sehenswürdigkeiten sind viel zu oft für Rollstuhlfahrer unbenutzbar.
Deutschland wurde einmal mehr vom UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen aufgefordert, das Konzept der angemessenen Vorkehrungen in allen Rechts- und Politikbereichen zur Gleichstellung von Menschen mit Beeinträchtigung gesetzlich zu verankern. Dazu hatte sich Deutschland mit der Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention bereits verpflichtet. Angemessene Vorkehrungen zu treffen stellen das Einmaleins der baulichen Barrierefreiheit dar und müssen unbedingt auf die Agenda der Verpflichtungen gesetzt werden. Das Institut für Menschenrechte hat das in leichter Sprache gut erklärt. Deutschland blockiert. Wir seien immer noch gut im Aussortieren, sagten jüngst die Kultusminister unserer europäischen Nachbarn bei der entsprechenden EU-Tagung zu ihren deutschen Kollegen. Keine internationale Auszeichnung für uns, eher ein Armutszeugnis. Und. sehr geehrte Politik, die Art und Weise, wie man mit Menschen mit verschiedensten Hintergründen umgeht, beschreibt unsere Werte und symbolisiert, wer wir sind. Vielleicht erzeugt diese Wahrheit zum Nachdenken und sorgt dafür, dass die Bundesregierung endlich ihre Hinhaltetaktik zum Diskriminierungsschutz aufgibt.