Hans Lüttich räuspert sich. Er hat eine aus seiner Sicht unangenehme Unterhaltung vor sich, aus Perspektive seiner Gesprächspartnerin wird sich diese richtig tragisch gestalten. Wir schreiben das Jahr 1945, die 23-Jährige Henni wartet sehnsüchtig auf ihren Freund Hans aus Hamburg. Über ein Jahr haben sich die beiden nicht gesehen, das letzte Mal in Herrmansburg in Schlesien, vor der Flucht von Henni mit ihrem Vater und ihrer elf Jahre jüngeren Schwester Annelore nach Oberkirchenrat.
Henni ist total verliebt in den Seemann, der bei der Marine ist, und dessen Berührungen sie doch so lange entbehren musste. Weiß sie überhaupt noch, wie diese Lippen schmecken, die köstlichen, verheißungsvollen Lippen von ihrem Hans?, fragt sie sich. Und ja, natürlich, die vergisst sie nicht. Und deshalb seht für Henni fest, ein adrettes Kleid muss her, bevor sie ihren starken Seebären empfängt. Aber woher nehmen in den Nachwehen des Krieges, indem man eh von der Hand in den Mund lebt und textile Träume in der Regel unerfüllt bleiben?!
Gewusst wie, mit einer Dorfgemeinschaft im Schaumburgischen, in der man zusammenhält und in denen die Damen der jungen Henni gern behilflich sind. Mit Gardinen. Aus Schals nähen sie der Verliebten ein floral geprägtes Sommerkleidchen. Henni strahlt übers ganze Gesicht. Ja, jetzt kann ihr Hans kommen, jetzt fühlt es sich richtig an mit dem neuen Gewand und der Aussicht auf eine sonnige Zukunft mit ihrem gestandenen Mannsbild.
Und dann ist er eines Tages da – steht vor der Tür der bescheidenen 1-Zimmer-Unterkunft in Obernkirchen – und räuspert sich. Henni ist nach dem ersten sagenhaften Glücksmoment doch erschrocken. Was ist los, was macht Hans für ein Gesicht?! Der gesteht ihr mehr stotternd als verständlich, dass er doch in Hamburg habe Flüchtlinge aufnehmen müssen. Und ja, da habe es sich so ergeben, dass er das Mutter-Tochter-Gespann, das seit einiger Zeit bei ihm lebe, näher kennen gelernt habe. Und das müsse sie, Henni, doch verstehen, dass sich bei dieser Nähe etwas angebahnt habe zu der jungen Frau. Und seine Schwiegermutter in spe habe auch gemeint, dass ein Mannsbild wie er, gut aussehend und verbeamtet, doch nicht so lang allein bleiben könne. Und nun sei er eben verbandelt mit der Tochter. Während er sprach, wurde er ruhiger und Henni immer angespannter. Was sollte das bedeuten? Sie müsse ein Leben ohne ihren Hans leben …?
Ja, das musste sie. Sie lebte ohne ihre große Liebe, aber mit einem guten Mann, Erich, mit dem sie in tiefer Freundschaft verbunden war. Die große Liebe fand sie nochmal in der Beziehung zu ihren Söhnen. Und zum Enkel. Die kleine Annelore von damals erzählt mir diese Geschichte, sie ist heute selbst dreifache Oma und meine Schwiegermutter. Ich bin irgendwie berührt von der Geschichte über die Liebe des Lebens, die man ziehen lassen muss. Milliardenfach und noch viel öfter kommt dies vor, die Gefühle, die beim Erzählen der Geschichte bei meiner Schwiegermutter mitschwingen, zeigen: Die große Liebe vergisst man nicht. Deshalb lohnt es sicher immer, um sie zu kämpfen. Denn das ist das wichtigste. All you need is love.